„Ich sehe was, was du nicht siehst“ – oder: Warum Perspektivwechsel in der Pädagogik unverzichtbar ist

Constance Sawusch
10. Juli 2025


Wir alle tragen ihn – unseren unsichtbaren Rucksack. Gefüllt mit Erfahrungen, Erinnerungen, inneren Anteilen, gelernten Strategien und aktuellen Sorgen. Dieser Rucksack ist nützlich: Er hilft uns, Situationen schnell einzuschätzen und darauf zu reagieren. Gerade in belastenden Momenten greifen wir unbewusst in unsere „Gedankenschubladen“ – und ziehen Altbewährtes hervor.

Das schützt – uns. Im besten Fall auch unser Gegenüber.
Doch im pädagogischen Alltag kann genau dieser Automatismus zu einem Problem werden.

Denn: Wir sehen oft nicht, was ist, sondern was wir glauben, zu sehen. Wir interpretieren – bevor wir wirklich beobachten. Und genau hier liegt eine der größten Herausforderungen professionellen pädagogischen Handelns.

Von der Beobachtung zur Reflexion

Ein Kind schreit, schlägt, zieht sich zurück.
Wir denken: Es trotzt. Es will nicht hören. Es provoziert.
Doch was, wenn das Kind nicht trotzt, sondern ringt? Um Halt. Um Beziehung. Um Regulation?
Was, wenn wir keine Grenzüberschreitungen beobachten, sondern getarnte Notrufe?

Reflexion beginnt mit einem Innehalten.
Nicht sofort deuten, nicht sofort handeln. Zuerst genau hinschauen. Wahrnehmen. Ohne Wertung.

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.“ – Viktor E. Frankl


Die fünf häufigsten Wahrnehmungs- und Beobachtungsfehler

Unsere Wahrnehmung ist fehleranfällig – besonders unter Stress, Zeitdruck oder in emotionalen Situationen. Fünf klassische Fallen sind:

  • Halo-Effekt: Eine (positive oder negative) Eigenschaft überstrahlt alles – wir sehen nicht mehr differenziert.
  • Primär-Effekt: Der erste Eindruck bleibt haften und verzerrt alle weiteren Beobachtungen.
  • Rezenz-Effekt: Was zuletzt geschah, wirkt überproportional stark in der Bewertung.
  • Projektions-Effekt: Wir sehen uns selbst im Gegenüber – und reagieren emotional statt sachlich.
  • Erwartungs-Effekt: Unsere Hypothesen formen die Wirklichkeit – ohne dass wir es bemerken.


Reflexionsfragen für die Praxis
  • Habe ich gerade wirklich beobachtet – oder bereits interpretiert?
  • Welche meiner eigenen Erfahrungen oder Gefühle spielen hier mit hinein?
  • Könnte es eine andere Perspektive auf das Verhalten des Kindes geben?
  • Habe ich ausreichend Informationen gesammelt, bevor ich Schlüsse ziehe?
  • Wie kann ich professionell und empathisch zugleich reagieren?


Selbstoffenbarung und professionelle Haltung

Wenn wir pädagogisch handeln, sind wir nie „neutral“. Unsere Haltung, unsere Biografie, unser Rucksack – all das beeinflusst, wie wir Kinder sehen und was wir über ihr Verhalten denken.
Selbstreflexion heißt: Ich mache mir meinen Anteil bewusst. Ich erkenne meine „Brille“. Ich stelle mich selbst infrage.

Reflexion braucht Mut. Zeit. Und manchmal ein Gegenüber. Aber sie ist die Basis für eine professionelle Beziehungsgestaltung.



Perspektivwechsel als Chance

Vielleicht sollten wir öfter die Plätze tauschen.
Wo Erwachsene Probleme sehen, sehen Kinder Möglichkeiten.
Wo wir Grenzen wahrnehmen, erleben Kinder Spielraum.
Wenn wir bereit sind, genauer hinzusehen, kann aus einem „Problemverhalten“ ein verstehbares Signal werden.

Deshalb:
Beobachte.
Reflektiere.
Und frage dich: Was sehe ich – und was könnte ich sehen, wenn ich meine Sichtweise verändere?